Liebste Lebensversicherung,
weißt du noch, wie es angefangen hat? Damals stand Herr Kaiser, dein charmanter Vertreter, vor meiner Tür. Mit seinem Lächeln und Versprechen von einer goldenen Zukunft hast du mich sofort überzeugt. Ich war jung, unerfahren – und habe dir vertraut. Und während Herr Kaiser nun schon längst in seiner wohlverdienten Rente sitzt, wahrscheinlich finanziert durch einen Teil meiner Beiträge, stehe ich kurz vor der Rente und frage mich: Was ist aus all den großen Versprechen geworden?
Jahrelang habe ich dich brav bezahlt. Jeden Monat ging ein Teil meines Einkommens an dich, ohne dass ich genau wusste, was du mit meinem Geld machst. Und einmal im Jahr kam dann dein „Liebesbrief“, dieser sogenannte Dynamiknachtrag. Schön verpackt, voller wohlklingender Begriffe wie „Überschussbeteiligung“ und „Dynamik“, doch dahinter steckte meist nur die bittere Wahrheit: Deine Überschüsse sanken, meine Beiträge stiegen – und ich habe es einfach hingenommen.
Du hast mir immer wieder von grenzenloser Liebe und einem Garantiezins von 4 % erzählt. Aber auf was genau? Je länger unsere Beziehung dauerte, desto weniger bekam ich davon zu spüren. Es war, als ob du die Leidenschaft aus unserer „Ehe“ Stück für Stück ausgehöhlt hast, während ich brav weiterzahlte, immer in der Hoffnung auf eine sichere Zukunft.
Jetzt, kurz vor meiner Rente, schaue ich auf das Ergebnis und bin enttäuscht. Ich frage mich: Wie hast du mein Geld all die Jahre angelegt? Warum hast du nicht mal in etwas investiert, das mir eine echte Chance auf Wachstum gegeben hätte – ein paar Aktien, ETFs, irgendwas mit Potenzial? Stattdessen stehe ich jetzt mit einer „Ablaufleistung“ von 40.000 Euro da. Das waren mal 80.000 Mark! Aber heute? Was soll ich damit anfangen? Es ist weder genug, um entspannt zu leben, noch so wenig, dass es keine Rolle spielt. Und deine garantierte Rente von 200 Euro im Monat – ein Tropfen auf den heißen Stein.
Vielleicht bin ich ja nur einer von vielen, einer von 86 Millionen Verträgen. Vielleicht geht es den anderen besser oder sie haben schlicht nie nachgerechnet. Vielleicht war ich einfach zu vertrauensvoll und hätte früher genauer hinsehen sollen. Aber wer macht das schon? Eine Lebensversicherung schließt man doch ab, weil man denkt, dass sie einen bis ans Lebensende begleitet. Eine Rentenversicherung, weil man glaubt, sie sorgt im Alter für Sicherheit. Und dann vertraut man – ohne je zu hinterfragen.
Aber jetzt, nach all den Jahren, habe ich die Augen geöffnet. Die Liebe ist erloschen, und ich beantrage hiermit offiziell die Scheidung. Es tut mir leid, aber unsere Zeit ist vorbei. Vielleicht hast du noch andere treue „Ehepartner“, die nicht so genau hinsehen wie ich. Aber ich bin raus.
Mit enttäuschten, aber befreienden Grüßen,
Ein ehemaliger Beitragszahler.
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