Befragung unter 6200 Erwerbspersonen

9 Prozent der Erwerbspersonen in Deutschland haben im April/Mai 2022 Verschwörungserzählungen zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zugestimmt. 17 Prozent unterstützten Aussagen, die Geflüchtete aus der Ukraine abwerten. Die Überschneidung zwischen beiden Gruppen ist erheblich. Das macht deutlich: wer offen ist für Verschwörungsdenken, neigt auch stärker zu abwertenden Einstellungen. Die überwiegende Mehrheit, nämlich 74 Prozent der Erwerbspersonen, lehnen Verschwörungsdenken zum Krieg ab; mit 44 Prozent auch abwertende Aussagen über geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer. 12 Prozent bzw. 30 Prozent äußerten sich ambivalent, das heißt, sie stimmten unter jeweils mehreren Aussagen mit Bezug zu Verschwörungsdenken bzw. Abwertung ukrainischer Geflüchteter mindestens einer zu, aber nicht allen (siehe auch Abbildungen 1 und 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Deutlich überdurchschnittlich verbreitet sind solche Ansichten bei Menschen, die in der aktuellen Krise finanzielle Sorgen oder Angst vor Arbeitsplatzverlust haben oder deren Vertrauen in demokratische und öffentliche Institutionen gering ist. Besonders weit verbreitet findet man diese Einstellungen im Kreis derjenigen, die in vergangenen Befragungen bereits Verschwörungsmythen rund um die Corona-Pandemie zuneigten oder sich in der Pandemie nicht haben impfen lassen. Wählerinnen und Wähler der AfD stimmen Verschwörungsdenken und Abwertungen Ukraine-Geflüchteter dreimal so häufig zu wie der Durchschnitt der Befragten, Nichtwählerinnen und -wähler doppelt so häufig (Abbildungen 3 bis 6 in der pdf-Version). Das ergibt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung auf Basis der aktuellen Erwerbspersonenbefragung der Stiftung unter mehr als 6200 Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden.*

Schaut man auf soziodemografische Merkmale, sind überdurchschnittliche Zustimmungsraten zu Verschwörungsdenken und Abwertungen bei Menschen mit niedrigerem Schulabschluss und geringeren Einkommen zu beobachten, etwas häufiger auch bei jüngeren Befragten (insbesondere jüngeren Männern mit Hauptschulabschluss) sowie in Ostdeutschland, ohne dass sich die Zustimmung dazu auf diese Gruppen beschränkt (Abbildungen 7 bis 10).

Zum einen zeigten die neuen Befunde ein "relativ kleines, aber in seinen Einstellungen verhärtetes Klientel, das dem demokratischen Diskurs weitgehend den Rücken kehrt, das den Institutionen misstraut und bereits in der Pandemie unkooperativ handelte", ordnet Studienautor Dr. Andreas Hövermann die Daten ein. "Ein erheblicher Anteil derjenigen, die jetzt Verschwörungsdenken zum Ukraine-Krieg teilen, waren bereits zu Beginn der Pandemie bereit, konspirativen Deutungen über das Virus zu glauben." Dies verdeutliche, "wie austauschbar und anpassungsfähig letztlich der Inhalt der angeblichen Verschwörungen ist."

Andererseits sollten die Befunde auch für eine nicht unerhebliche Gefahr der weiteren Destabilisierung in der aktuellen Situation sensibilisieren, in der viele Menschen finanzielle Sorgen plagen und auch das Institutionenvertrauen durch fast drei Jahre Dauerkrise strapaziert ist. "Das stellt einen gefährlichen Nährboden dar, und wir sehen, wie anknüpfungsfähig und attraktiv Verschwörungsdeutungen sein können und wie schnell Solidarität entzogen werden kann, wenn eigene finanzielle Sicherheiten ins Wanken geraten", sagt der Soziologe.

Verschwörungsdenken und die Herabsetzung von Geflüchteten könnten bei einem Teil der unter wirtschaftlichem Druck stehenden Befragten "als Versuch gedeutet werden, den empfundenen Kontrollverlust zu kompensieren." Zudem sei es offenbar attraktiv, so "sich selbst oder die Eigengruppe aufzuwerten – dies ist denkbar sowohl durch das Abwerten anderer, die als Konkurrenten wahrgenommen werden, als auch durch die eigene Aufwertung als kompetente und einzig Wissende in Form des Verschwörungsdenkens", so der WSI-Experte.

Das von vielen Fachleuten für den Herbst erwartete politische "Mobilisierungsfeld, das die finanziellen Sorgen der Menschen anspricht" sollte keinesfalls "Verschwörungsideologinnen, Verschwörungsideologen und Rechtsextremen" überlassen werden, "die bereits in den Startlöchern stehen, um diese Themen als Propagandafläche zu nutzen", schreibt Hövermann.

Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sei es daher einerseits extrem wichtig, dass die Regierung drastische finanzielle Belastungen durch die hohe Inflation infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wirksam abfedere und mit der Ausgestaltung von Maßnahmen glaubhaft vermittle, dass bedürftige Gruppen bei der Entlastung Priorität haben, schließt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI, aus den Befragungsdaten. Angesichts der Preisexplosion insbesondere bei Haushaltsenergie gehe es dabei längst nicht mehr ausschließlich um Erwerbspersonen mit niedrigen Einkommen. Der hohe wirtschaftliche Druck reiche bis in die Mittelschicht und dürfte aktuell noch erheblich größer sein als zum Befragungszeitraum Ende April. "Wenn es darum geht, Verunsicherten neue Sicherheit zu geben, heißt das: Entlastungen müssen substanziell sein, schnell kommen und so klar strukturiert und kommuniziert sein, dass sie für die Menschen erfahrbar sind. Besonders bei diesem dritten Faktor hat es bislang gehapert", analysiert die Soziologin.

Darüber hinaus sei es wichtig, Reformen am Arbeitsmarkt anzugehen, die für stabile Beschäftigung sorgten, auch angesichts der kommenden Transformations-Herausforderungen. "Denn aus anderen Befragungen wissen wir: Wer eine sichere Beschäftigung mit gutem Einkommen hat, Wertschätzung der beruflichen Leistung erfährt und die Möglichkeit sieht, die eigene Arbeit mitzugestalten, neigt deutlich seltener zu anti-demokratischen Einstellungen als Berufstätige, auf die das nicht zutrifft", sagt Kohlrausch. "Zur Wertschätzung gehört neben einer angemessenen Entlohnung auch, an Entscheidungsprozessen beteiligt zu werden und das eigene Arbeitsumfeld mitgestalten zu können."

Gleichzeitig sei es eine wichtige Aufgabe für die gesamte demokratische Gesellschaft, Diskriminierungen sowie Verschwörungserzählungen wirksam entgegenzutreten und wirkliche Lösungsansätze von populistischen Scheinlösungen abzugrenzen, betont die WSI-Direktorin.

– Detaillierte Ergebnisse und Informationen zur Methode –

Die neue Untersuchung stützt sich auf die achte Welle der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung. Dafür wurden von Ende April bis Anfang Mai 2022 insgesamt 6234 Erwerbstätige und Arbeitsuchende von Kantar Deutschland online zu ihrer Lebenssituation befragt. Dasselbe Sample war bereits im April, im Juni und im November 2020, im Januar und Juli 2021 sowie im Januar 2022 interviewt worden, jedoch nicht immer mit dem vollständigen Fragenkatalog. Die Befragten bilden die Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab.

Im Rahmen der Multi-Themen-Befragung konnten die Befragten unter anderem fünf Aussagen auf einer Skala von 1 ("stimme überhaupt nicht zu") bis 4 ("stimme voll und ganz zu") bewerten, die Verschwörungsdenken rund um den Krieg in der Ukraine bzw. abwertende Einstellungen zu Geflüchteten aus dem angegriffenen Land artikulieren. Im Einzelnen waren das: "Der Krieg in der Ukraine dient nur der Ablenkung von der Corona-Pandemie", "Der Krieg gegen die Ukraine wird genauso künstlich dramatisiert wie die Pandemie", "Geflüchtete aus der Ukraine sollten sich hier in Deutschland erstmal hintenanstellen", "Wir können nicht noch mehr Geflüchtete in Deutschland aufnehmen", und, als positiv formuliertes Item: "Deutschland sollte bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine großzügig sein".

Den ersten beiden Aussagen mit starken Bezügen zu Verschwörungsdenken stimmten 4 bzw. 8 Prozent der befragten Erwerbspersonen voll und ganz zu, weitere 7 bzw. 11 Prozent "eher" (siehe Abbildung 1). Bei den Items drei und vier stimmten 9 bzw. 16 Prozent den abwertenden Aussagen voll und ganz zu, weitere 19 bzw. 22 Prozent "eher". Die positiv formulierte Aussage zur großzügigen Aufnahme verneinten 10 Prozent voll und ganz, weitere 25 Prozent "eher" (siehe Abbildung 2).

In beiden Aussagekomplexen korrelierte das Antwortverhalten der Befragten relativ stark, sodass Befragte häufig allen Aussagen zustimmten oder alle Aussagen ablehnten. Um aussagefähige Kategorisierungen zu erreichen, hat Sozialforscher Hövermann daher folgende Gruppen gebildet: Befragte, die den beiden Items zu Verschwörungserzählungen voll und ganz oder eher zustimmten, ordnet er der Gruppe "Zustimmung" zu, der 9 Prozent aller Befragter angehören. Wer beide Items voll oder eher ablehnt, wird der entsprechenden Gruppe "Ablehnung" (74 Prozent) zugerechnet. Zur Gruppe "Ambivalenz" gehören jene 12 Prozent aller Befragten, die einer Aussage zustimmten, der anderen nicht. Analog ging der Forscher bei den drei Items zur Abwertung von ukrainischen Geflüchteten vor: Befragte, die auf alle drei Aussagen abwertend geantwortet haben, werden als "zustimmend" zugeordnet (17 Prozent). Befragte die auf alle drei Aussagen nicht abwertend geantwortet haben als "nicht zustimmend" (44 Prozent). Alle weiteren Antwortkombinationen bedeuten, dass die Befragten auf mindestens eine Aussage abwertend und auf eine andere Aussage nicht abwertend geantwortet haben, sodass diese Befragten als "ambivalent" zugeordnet werden (30 Prozent). Auch hier erfolgte die Zuordnung unabhängig vom Ausmaß der Zustimmung oder Nicht-Zustimmung, sondern es war nur relevant ob den Aussagen zugestimmt wurde oder nicht.

*Andreas Hövermann: Verschwörungsdenken und die Abwertung Ukraine-Geflüchteter vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Energiekrise. Analysen anhand des Erwerbspersonenpanels der Hans-Böckler-Stiftung. WSI-Report Nr. 78, September 2022. Download: https://www.wsi.de/…

Die PM mit Abbildungen (pdf): https://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2022_09_22.pdf

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